Sehen und gesehen werden

Zwischen den Zeilen

Inspiriert von den Klängen der Karottenrevolution erarbeitete die Tanzlehrerin Lena Nguyen mit ihrer Klasse eine 1 : 1-Performance. 

WAS IST EINE 1 : 1-PERFORMANCE?

 

Gemeinsam mit fünf ihrer Schüler*innen hat Lena Nguyen, Tanzlehrerin der Kreismusikschule Oberhavel, für das Musikfest Liebenberg eine so genannte 1 : 1-Performance erarbeitet – inspiriert durch die Musik von Gabriella Smiths Komposition „Carrot Revolution“. Man kann diese Form von Aufführung als Zwiegespräch zwischen Künstler*in und Publikum umschreiben: Je ein*e Tänzer*in tanzt einem bzw. einer Zuschauer*in vor. Die Besucher*innen hören währenddessen auf ihrem Handy oder dem Tablet der Tanzgruppe die entsprechende Audiodatei, von den Jugendlichen geschriebene und eingesprochene Texte über ihre Gedanken und Gefühle.

 

Für die Jugendlichen war es gut, ihre Gefühle in Wort und Tanz auszudrücken – so konnten sie sie leichter loslassen. Ausgewählte Texte und Audiodateien lesen und hören Sie unten im Beitrag.

 

 

KREISMUSIKSCHULE OBERHAVEL

 

Die Musikschule ist bekannt für ihre engagierte Förderung künstlerischen Nachwuchses. Unter Leitung von Manfred Schmidt engagiert sie sich in der Ensemblearbeit, um Gemeinschaft und Begegnungsräume zu schaffen sowie Breiten- und Spitzenförderung auch im ländlichen Raum zu ermöglichen. Für die „Karottenrevolution“ fanden sich Tanzklassen aus Gransee, Zehdenick und Oranienburg zusammen.

 

„Wir müssen diesem Druck etwas entgegensetzen“

Ich habe darüber nachgedacht, wie es sich anfühlt, in unserer Gesellschaft zu leben – und was man dafür mitbringen muss. Dabei ist mir aufgefallen, unter welch großem Druck wir dauerhaft stehen. Dass ständig Dinge von einem erwartet werden, die man vielleicht gar nicht möchte oder schafft. Auch in Schule und Familie muss man vielen Erwartungen genügen. Oft werden einem diese Erwartungen vermittelt, ohne ausgesprochen zu werden, sondern eher unterbewusst – ich finde es krass, wie klar sie dennoch bei uns ankommen. Auch auf Social Media geht es um Erwartungen: Dort wird ein bestimmtes Bild vermittelt, wie ein gutes Leben auszusehen hat. Auch wenn man weiß, dass es nicht die Wahrheit zeigt, kann es viel in einem auslösen. Wenn ich in die Zukunft schaue, spüre ich eine große Last, weil ich weiß, dass diese Zukunft nicht so gut sein wird, wie wir uns das wünschen. Ich muss das die ganze Zeit verdrängen, aber manchmal kommt es dennoch hoch. Und ich frage mich, ob wir gegen den Druck, den das auslöst, nicht etwas tun müssen? Etwas gegen diese ganzen unausgesprochenen Erwartungen unternehmen – damit unsere Gesellschaft gesünder wird.

 

 

„Tanzen ist mein Weg, meine Gefühle auszudrücken“

Angst. Es gibt so viele verschiedene Arten von Ängsten. Vor bestimmten Tieren, vor der Dunkelheit. Die Angst, allein zu sein. Und dann gibt es meine Angst, nicht verstanden zu werden. Angst vor diesem „Hä?“-Blick. Die Unsicherheit, jemandem seine Probleme anvertrauen zu können. Was tun wir, wenn wir diese Angst in uns tragen? Wir fressen sie in uns hinein. Und sie wird von Tag zu Tag größer. Manchmal hat man das Gefühl, zu ertrinken. In der eigenen Verzweiflung. Warum ist das so? Und wie soll es weitergehen? Der ganze, selbst aufgebaute Druck macht uns fertig. Manchmal kommt in mir sogar das Gefühl auf, erdrückt zu werden. Tanzen ist mein Weg, meine Gefühle auszudrücken – oder einfach für einen Moment diese Welt zu verlassen und eine ganz neue zu betreten. Eine, in der man nicht die Frage beantworten muss, wie es mit der Zukunft werden wird und was der Klimawandel bringt. Dann gibt es nur mich und die Musik. Manchmal ist diese Welt ein heller, leuchtender Raum, manchmal eine dunkle Fläche.

 

„Es geht doch darum, neue Menschen und Kulturen kennenzulernen“

Meine Schule hat neulich Orientierungstage veranstaltet, um Berufe, Universitäten und Organisationen vorzustellen. Eine dieser Organisationen vermittelt Auslandsaufenthalte. Ihre Mitarbeiterin erklärte uns verschiedene Wege, wie man nach der Schule ins Ausland gehen kann  – von Au pair bis work & travel. Ich fand das sehr interessant, weil ich es gerne machen würde. Aber ich fand die Werte, die uns die Frau vermitteln wollte, sehr schwierig. So hat sie uns zum Beispiel gesagt, dass wir hier in Deutschland oder Europa Bildung erfahren, die andere Menschen nicht haben. Dass wir hier sehr aufgeklärt sind und es daher im Ausland unsere Aufgabe ist, andere Menschen aufzuklären und ihnen zu zeigen, wie man bestimmte Dinge macht. Ich fand diesen Gedanken sehr falsch. Es war nicht das erste Mal, dass ich so etwas gehört habe. Diese westliche Arroganz – zu denken, dass unsere Kulturen überlegen sind, nur weil wir in Deutschland oder Europa viel mehr Geld haben! Dass wir schlauere und privilegiertere Menschen sind. Es hat mich sehr wütend gemacht, dass diese Frau einfach in die Schule kommt und so zu Kindern und Jugendlichen spricht. Sie können vielleicht noch nicht so differenziert nachdenken und nehmen ihre Worte eventuell einfach hin. Mir ist dieses Gespräch sehr nachgegangen. Es ist einfach falsch, mit einer solchen Haltung ins Ausland zu gehen. Es geht darum, neue Sprachen und Kulturen kennenzulernen. Und neue Menschen.

 

„Erzählen wir einfach unsere wirkliche Geschichte!“

Ich habe neulich wieder meinen Lieblingssong gehört, „Enough for you“ von Olivia Rodrigo. Die Zeile „I`d say you broke my heart, but you broke much more than that“ geht mir nicht aus dem Kopf. Du hast mein Herz gebrochen, aber noch so viel mehr als das… Jedes von Olivias Liedern gibt mir einen Ratschlag, und irgendwie habe ich das Gefühl, sie sagt mir: Jede*r verstellt sich manchmal, um anderen zu gefallen. Wir verlieren unser eigenes Ich, indem wir für Menschen, die wir lieben, jemand anderes sein wollen. Wir vergraben unsere innersten Gefühle und Gedanken in dem Menschen, der wir vorgeben gerade zu sein. Ich denke, damit tut man niemandem einen Gefallen – am wenigsten sich selbst. Olivia gibt mir das Gefühl, als wolle sie mir zu diesem Thema ihre eigene Geschichte erzählen. Für mich klingt es so, als habe sie sich verstellt, weil sie dachte, dass genau das nötig wäre, um diesem einen Jungen zu gefallen. Doch am Ende wurde sie trotzdem verlassen. Zurückgelassen mit einem gebrochenen Herzen und der Frage, was sie falsch gemacht hat. Am liebsten würde ich ihr sagen, dass der Fehler war, sich von Anfang an zu verstellen. Warum ist sie nicht sie selbst geblieben, egal, was andere über sie dachten und denken? Letztendlich gibt es doch viele Menschen, die unsere ehrliche Persönlichkeit lieben – dadurch gewinnen wir wahre Freunde. Natürlich gibt es auch Menschen, die unser wirkliches Ich nicht akzeptieren. Aber das müssen sie auch nicht. Denn es ist viel wichtiger, dass Olivia sich selbst achtet und Freunde, die das verstehen, wertschätzt. Dass sie die Zeit mit ihnen genießt, um den Spaß ihres Lebens zu haben. Das gilt für alle Menschen, für alle, die mir gerade zuhören. Für alle, die genau an diesem Problem verzweifeln, und für alle, die einen ehrlichen Ratschlag brauchen. Erzählen wir einfach denen, die wir mögen, unsere Geschichte. Egal, wie langweilig sie auch sein mag. Andere besteigen vielleicht den Mount Everest und Du nur den Hügel irgendwo im Nirgendwo. Aber Du machst auf der Spitze ein Picknick – dafür ist es auf dem Mount Everest viel zu kalt. Du, nein Ihr, versteht schon, was ich damit sagen will, oder? Wir sollten uns selbst akzeptieren und nicht immer auf die Meinungen der anderen schauen. Stehen wir zu uns und unserem Ich? Wer will schon sein ganzes Leben mit einer Lüge über sich selbst verbringen?